Brief von Joseph von Laßberg an Wilhelm Wackernagel (30.03.1838).

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Metadata

Signatur: Basel, Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt,

Registernummer (Laßberg): 94

Registernummer (Harris): 982

Gedruck in: Wackernagel: Albert Leitzmann, Briefe aus dem Nachlaß Wilhelm Wackernagels. VI.: Briefe von Joseph von Laßberg. In: Abhandlungen der phil.-hist. Klasse der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 34,1. Leipzig 1916, S. 92-130, S. 117

Original Text

Eppishausen am 30. März 1838. Vererter Herr Professor! Um unsern freunden und verwandten unsern künftigen wonort recht bald, in einem, wenn auch nicht kunstreichen bilde, vergegenwärtigen zu können, zeichnete meine frauGND Icon solchen flüchtig und eiligst ließen wir solchen in Constanz lithographiren: hier folgen ein par exemplare davon für Sie und Ire frau gemalinGND Icon; damit, wenn Sie einst, die küsten des BodenseesWIKIDATA Icon bereisend, nach MeersburgWIKIDATA Icon kommen, auch wissen, wo Sie einkeren sollen. Sie werden schon aus dem bildchen ersehen, daß es eine gute, wonliche und geräumige alte burg ist, ganz frei an der sonne gelegen, mit vielen hellen, hohen und freundlichen gemächern von denen man herrliche aussieht über den ganzen BodenseeWIKIDATA Icon auf die schwäbischen, tyrolischen und schweizerischen alpenWIKIDATA Icon hat; auch wächst zu MeersburgWIKIDATA Icon ein weinchen, das dem EppishauserWIKIDATA Icon an güte, kraft und annemlichkeit kaum nachstehet. was will man mer, wenn sich der besuch lieber freunde noch dazu füget? bene est, nil amplius oro! Jezt bin ich mit einpaken meiner bücher beschäftiget, multorum camelorum onus! und bald werde ich an die handschriften kommen; ich erwäne dieses beiläufig, damit, wenn etwa die am 18ten octobers von hier nach BaselWIKIDATA Icon gereiseten dort entberlich werden sollten, sie die reise nach dem alten SchwabenlandeWIKIDATA Icon, um guter gesellschaft willen, mit iren hiesigen kameraden antretten könnten. Nach langem zwischenraume habe ich vor kurzem wieder einmal eine pergament handschrift des XIV. Jarhunderts erworben, ein schöner wolerhaltener codex: es ist ein lateinisches Martyrologium oder heiligenlegende, wie sie per circulum anni in der katholischen kirche gefeiert werden. da der verfasser, in dem leben Karl des großenGND Icon, ganz dem TurpinusGND Icon gefolgt ist; so ist diese recension wol iünger als das Martyrologium Bedae📖, und da sie die S. Galler Heiligen: OthmarGND Icon, GallusGND Icon und NotkerGND Icon enthält, auch noch iünger als ienes des Usuardus, das er Karl dem IIIGND Icon. diken zu eignete. Je nun, es ist doch immer etwas; regnets nicht, so tröpfelts doch! In der Baseler Zeitung📖 lezten Jares N. 49. seite 216. lese ich unter den ankündigungen, daß bei H. von SpeyrGND Icon dem ältern. zum grünen Helm. N. 415. für 2 bazen, ein gedruktes verzeichniß seines Antiquitaeten und kunst kabinets📖 zu haben seie. da ich doch gerne den inhalt dieser, von dem besizer selbst reich genannten, sammelung kennen lernte; so wage ich es Sie vererter Herr! zu bitten, mir bei rüksendung meiner bücher ein exemplar beizulegen, und mir die 2 bazen bis zu nächster gelegenheit zu borgen, auch möchte ich erfaren: ob H. von SpeyrGND Icon nicht etwa mit gegenständen seiner sammelung handelt oder tauscht ? Von unserm guten Jacob GrimmGND Icon habe ich die längste zeit nichts erhalten: da es nun gegen ostern gehet, wird er sich wol bald entscheiden müßen, ob er in BerlinWIKIDATA Icon oder LeipzigWIKIDATA Icon das kommende sommerhalbiar lesen will? das lezte wäre mir noch lieber; denn ich fürchte, daß WilhelmsGND Icon brust das klima von BerlinWIKIDATA Icon nicht ertragen möchte. Nun muß auch JacobsGND Icon lateinisches buch📖, an dem er auch in KasselWIKIDATA Icon ununterbrochen fortarbeitete, bereits fertig sein, wenn es noch auf die Ostermesse wandern will; ich bin ser begierig darauf, auf die tierfabel, die älter sein soll als der Reinardus📖, auf den Ortlieb📖, ob er auf einem historischen grunde wurzelt? und auf den von mir, mit meinem ganzen aparate, im abge trettenen Waltharius📖 und wie er die geschichte mit dem Geraldus Floriacensis📖 nennen wird? Sollte mir freund JacobGND Icon etwa, durch einen heimkerenden Baseler Studenten, ein exemplar an Sie übermachen; so bitte ich recht angelegenst es mir doch, mit erstem abgehenden postwagen, zuzufertigen. Zum lesen und schreiben habe ich nun wenig zeit; doch lese ich eben /: im bette:/ Gervinus geschichte der poetischen National Literatur der Deutschen📖. welch ein strom von beredsamkeit, welch ein meer voll wissen, welch schneller und umfassender überblik! aber auch welch ein unbe gränztes selbstvertrauen, welcher absolutismus im absprechen und manchmal, welche einseitigkeit in ansieht und urteil! die demut ist doch eine förderliche tugend für die wissenschaft; aber sie scheint nach gerade ganz außer übung zu kommen. Die kinderGND Icon sind gottlob! beide wol auf, wachsen wie die spargeln und fangen, bei iezt anbrechendem frülinge, an zu singen wie die voegelein des benachbarten büchen waldes. alle tage neue freuden! auch die ältern sind wol und gottlob! noch immer gutes mutes. JennyGND Icon grüßet Sie und die frau ProfessorinGND Icon mit Irem ergebensten JvLaßberg. Sie haben doch wol meinen Brief vom 15 hornungs erhalten? - der Weingartner codex wird in FrauenfeldWIKIDATA Icon für den druk abgeschrieben; dieser aber kann erst beginnen, wenn ich einmal in dem alten MeersburgWIKIDATA Icon size und mein haupt an den thurm des königs DagobertGND Icon lene.

Normalisierter Text

Eppishausen am 30. März 1838. Verehrter Herr Professor! Um unseren Freunden und Verwandten unseren künftigen Wohnort recht bald, in einem, wenn auch nicht kunstreichen Bilde, vergegenwärtigen zu können, zeichnete meine Frau solchen flüchtig und eiligst ließen wir solchen in Konstanz lithographieren: hier folgen ein paar Exemplare davon für Sie und Ihre Frau Gemahlin; damit, wenn Sie einst, die Küsten des Bodensees bereisend, nach Meersburg kommen, auch wissen, wo Sie einkehren sollen. Sie werden schon aus dem Bildchen ersehen, dass es eine gute, wohnliche und geräumige alte Burg ist, ganz frei an der Sonne gelegen, mit vielen hellen, hohen und freundlichen Gemächern, von denen man herrliche Aussicht über den ganzen Bodensee auf die schwäbischen, tirolischen und schweizerischen Alpen hat; auch wächst zu Meersburg ein Weinchen, das dem Eppishauser an Güte, Kraft und Annehmlichkeit kaum nachsteht. Was will man mehr, wenn sich der Besuch lieber Freunde noch dazu fügt? Bene est, nil amplius oro! Jetzt bin ich mit Einpacken meiner Bücher beschäftigt, multorum camelorum onus! und bald werde ich an die Handschriften kommen; ich erwähne dieses beiläufig, damit, wenn etwa die am 18. Oktober von hier nach Basel gereisten dort entbehrlich werden sollten, sie die Reise nach dem alten Schwabenlande, um guter Gesellschaft willen, mit ihren hiesigen Kameraden antreten könnten. Nach langem Zwischenraum habe ich vor kurzem wieder einmal eine Pergamenthandschrift des XIV. Jahrhunderts erworben, ein schöner wohlerhaltener Codex: es ist ein lateinisches Martyrologium oder Heiligenlegende, wie sie per circulum anni in der katholischen Kirche gefeiert werden. Da der Verfasser, in dem Leben Karls des Großen, ganz dem Turpinus gefolgt ist, so ist diese Rezension wohl jünger als das Martyrologium Bedae, und da sie die St. Galler Heiligen: Othmar, Gallus und Notker enthält, auch noch jünger als jenes des Usuardus, das er Karl dem III. diktiert zu eigen hatte. Je nun, es ist doch immer etwas; regnet’s nicht, so tröpfelt’s doch! In der Baseler Zeitung letzten Jahres Nr. 49, Seite 216, lese ich unter den Ankündigungen, dass bei H. von Speyr dem Ältern, zum grünen Helm, Nr. 415, für 2 Batzen, ein gedrucktes Verzeichnis seines Antiquitäten- und Kunstkabinets zu haben sei. Da ich doch gerne den Inhalt dieser, von dem Besitzer selbst reich genannten, Sammlung kennenlernte; so wage ich es Sie, verehrter Herr, zu bitten, mir bei Rücksendung meiner Bücher ein Exemplar beizulegen, und mir die 2 Batzen bis zu nächster Gelegenheit zu borgen, auch möchte ich erfahren: ob H. von Speyr nicht etwa mit Gegenständen seiner Sammlung handelt oder tauscht? Von unserem guten Jacob Grimm habe ich die längste Zeit nichts erhalten: da es nun gegen Ostern geht, wird er sich wohl bald entscheiden müssen, ob er in Berlin oder Leipzig das kommende Sommerhalbjahr lesen will. Das letzte wäre mir noch lieber; denn ich fürchte, dass Wilhelms Brust das Klima von Berlin nicht ertragen möchte. Nun muss auch Jacobs lateinisches Buch, an dem er auch in Kassel ununterbrochen fortarbeitete, bereits fertig sein, wenn es noch auf die Ostermesse wandern will; ich bin sehr begierig darauf, auf die Tierfabel, die älter sein soll als der Reinardus, auf den Ortlieb, ob er auf einem historischen Grunde wurzelt? Und auf den von mir, mit meinem ganzen Apparat, im abgetretenen Waltharius und wie er die Geschichte mit dem Geraldus Floriacensis nennen wird? Sollte mir Freund Jacob etwa, durch einen heimkehrenden Baseler Studenten, ein Exemplar an Sie übermachen; so bitte ich recht angelegentlich, es mir doch, mit erstem abgehenden Postwagen, zuzuferigen. Zum Lesen und Schreiben habe ich nun wenig Zeit; doch lese ich eben /: im Bette :/ Gervinus Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Welch ein Strom von Beredsamkeit, welch ein Meer voll Wissen, welch schneller und umfassender Überblick! Aber auch welch ein unbegrenztes Selbstvertrauen, welcher Absolutismus im Absprechen und manchmal, welche Einseitigkeit in Ansicht und Urteil! Die Demut ist doch eine förderliche Tugend für die Wissenschaft; aber sie scheint nachgerade ganz außer Übung zu kommen. Die Kinder sind Gottlob beide wohlauf, wachsen wie die Spargeln und fangen, bei jetzt anbrechendem Frühlinge, an zu singen wie die Vögelein des benachbarten Buchenwaldes. Alle Tage neue Freuden! Auch die Älteren sind wohl und Gottlob noch immer guten Mutes. Jenny grüßt Sie und die Frau Professorin mit Ihrem ergebensten JvLaßberg. Sie haben doch wohl meinen Brief vom 15. Hornung erhalten? - Der Weingartner Codex wird in Frauenfeld für den Druck abgeschrieben; dieser aber kann erst beginnen, wenn ich einmal in dem alten Meersburg sitze und mein Haupt an den Turm des Königs Dagobert lehne.

Translation

Eppishausen, March 30, 1838. Esteemed Professor! To be able to vividly present our future place of residence to our friends and relatives, even if not in an artful image, my wife quickly drew such an image, and we had it lithographed in Constance: here are a few copies for you and your wife; so that, when you one day travel along the shores of Lake Constance and come to Meersburg, you will know where to stop by. You will already see from the little picture that it is a good, comfortable and spacious old castle, freely located in the sun, with many bright, high, and pleasant chambers from which one has a splendid view over the whole Lake Constance to the Swabian, Tyrolean, and Swiss Alps; also, in Meersburg grows a wine that barely falls short of the Eppishausen in quality, strength, and pleasantness. What more could one ask for, if visits from dear friends are added to it? All is well, I ask for nothing more! At present, I am occupied with packing my books, a burden of many camels! And soon I will come to the manuscripts; I mention this incidentally so that, if those who traveled from here to Basel on October 18 are needed there, they might undertake the journey to the old Swabian land, for the sake of good company, with their comrades from here. After a long interval, I recently acquired a parchment manuscript from the 14th century, a beautiful, well-preserved codex: it is a Latin martyrology or legend of saints as celebrated in the Catholic Church throughout the year. Since the author has entirely followed Turpinus in the life of Charlemagne; this recension is probably younger than the Martyrologium Bedae, and since it contains the St. Gall saints: Othmar, Gallus, and Notker, it is also younger than that of Usuardus, which he dedicated to Charles III. Well, it is always something; if it doesn't rain, it drizzles! In the Basel newspaper last year No. 49, page 216, I read among the announcements that at H. von Speyr the elder, at the Green Helmet, No. 415, a printed catalog of his collection of antiquities and art can be had for 2 batzens. As I would like to know the contents of this collection, which is described by the owner as rich, I dare to ask you, esteemed Sir, to enclose a copy when returning my books and to lend me the 2 batzens until the next opportunity, also I would like to know if H. von Speyr might trade or barter items from his collection? I have received nothing from our good Jacob Grimm for the longest time: since it is nearing Easter, he will soon have to decide whether he will lecture in Berlin or Leipzig in the coming summer semester? I would prefer the latter; because I fear that Wilhelm's chest might not endure the Berlin climate. By now, Jacob's Latin book, on which he has been continuously working even in Kassel, must be finished if it is to wander to the Easter fair; I am very curious about it, about the animal fable, which is said to be older than the Reynard, about Ortlieb, whether it is rooted in a historical foundation? And about how he will name the story with Geraldus Floriacensis concerning my whole apparatus in the relinquished Waltharius? If friend Jacob might deliver a copy to you through a returning Basel student; I kindly ask you to send it to me with the first departing mail coach. I now have little time to read and write; nevertheless, I am currently reading—to bed—Gervinus's history of the poetic national literature of the Germans. What a torrent of eloquence, what a sea full of knowledge, what quick and comprehensive overview! But also what boundless self-confidence, what absolutism in judgment, and sometimes what partiality in viewpoint and judgment! Humility is indeed a beneficial virtue for science; but it seems to be going entirely out of practice. The children, thank God, are both well, growing like asparagus, and beginning, in this now commencing spring, to sing like the little birds of the neighboring beech forest. New joys every day! The elders are also well, thank God, and still in good spirits. Jenny sends greetings to you and Mrs. Professor with her respectfully, JvLaßberg. You did receive my letter of February 15, didn't you?—the Weingartner codex is being transcribed for print in Frauenfeld; however, this can only begin once I am settled in the old Meersburg and lean my head against King Dagobert's tower.